Verhaltenskodex für die mikroklimatische Feldarbeit unter besonderer Berücksichtigung von Messungen in Kaltluftseen

Dieser Verhaltenskodex wurde im Herbst 2018 erarbeitet und vor der erstmaligen Publikation am 18.12.2018 bei einem losen Zusammenschluss von Kaltluftseeforschern in verschiedenen europäsichen Ländern in einer englischen Version vernehmlasst.

Es werden alle Organisationen, Institute und Personen ermutigt, welche in Kaltluftseen Feldforschung betreiben, sich diesem Verhaltenskodex anzuschliessen (Mail an info@kaltluftseen.ch) – Anregungen und Verbesserungsvorschläge sind erwünscht!

An dieser Stelle ist eine deutsche Übersetzung aufgeführt, massgebend ist jedoch die englische Version:

Version 1.0 vom 18.12.2018

Vorwort und Kontext

Die Feldforschung an Orten, an denen extrem tiefe Temperaturen auftreten können, hat eine mehr als 100jährige Tradition. Neben der klassischen universitären Forschung widmen sich in den vergangenen Jahren in verschiedenen Ländern Europas vermehrt auch Initiativen von Freiwilligen der Suche und Erforschung solcher Kaltluftseen. Diese Initiativen entsprechen der Definition von „Citzien Science“. Anders als bei vielen anderen Citizen Science-Projekten, bei welchen die Initiative von der institutionalisierten universitären Wissenschaft ausgeht und Freiwillige zur Unterstützung eingebunden werden, ist die Erforschung von Kaltluftseen in der Mehrzahl der Fälle privat getrieben, teilweise haben sich Kollaborationen mit staatlichen oder universitären Stellen ergeben.

Struktur und Organisationsgrad dieser Initiativen sind unterschiedlich und reichen von Einzelpersonen bis hin zu Vereinen. Kern der Aktivitäten bilden Messungen an ausgewählten Orten, an welche durch ihre topoklimatologische Disposition (geschlossene Senken) Temperaturminima auftreten können, welche signifikant tiefer liegen können als ausserhalb dieser Senken. Diese Messungen sind in hohem Grad standortgebunden.

Abhängig von den zur Verfügung stehenden Mitteln, welche üblicherweise zu grossen Teilen durch die Freiwilligen selber aufgebracht werden, werden Messnetze betrieben, welche einige wenige bis hin zu Dutzenden von Stationen umfassen. Ebenfalls von den Ressourcen, aber auch vom vorhandenen Knowhow getrieben sind die eingesetzten Mess- und Kommunikationsmittel sowie die Qualitätssicherungsmassnahmen (z.B. Kalibrierung). In der einfachsten Form werden analoge Minimum-Maximum-Thermometer eingesetzt. In den meisten Fällen werden Datenlogger in einem passiven Strahlungsschutz zum Einsatz, welche regelmässig ausgelesen werden müssen. Wo es die Mittel erlauben, werden semiprofessionelle, in wenigen Fällen auch professionelle Stationstypen mit Echtzeitdatenübertragung eingesetzt.

Gemeinsam ist allen diesen Initiativen eine hohe Motivation und ein hohes Engagement.

In der Vergangenheit ist es in Forschungsgebieten in verschiedenen Ländern zu Friktionen zwischen Forschungsgruppen gekommen (Messkampagnen ohne Bewilligungen und/oder ohne Absprache mit bereits dort tätigen Gruppen). Solche Konflikte binden unnötigerweise Energie und Ressourcen und fallen im Endeffekt auf das Ansehen der gesamten Community zurück.

1        Zweck dieses Kodex und Verbindlichkeit

Diese Forschungsaktivitäten sind eingebettet in einen Kontext mit verschiedenen Partnern und Stakeholdern. Das Ziel dieses Ehrenkodex ist es, das eigene Verhalten zu reflektieren und so einen Beitrag zu leisten, um Probleme in der Beziehung mit Partnern und Beteiligten zu vermeiden. Ein Ehrenkodex appelliert an das Verhalten der Gruppen und Personen, welche Feldforschung in Kaltluftseen betreiben. Es ist kein verbindliches Reglement: die hier aufgestellten Regeln sind jedoch breit akzeptiert. Wer sich daran hält, trägt zur Vermeidung von Problemen bei – wer dagegen verstösst, bringt sich selber und die gesamte Community in Misskredit.

2        Regeln

2.1      Regeln guter wissenschaftlicher Praxis

Auch wenn es sich in den meisten Fällen um Freiwilligenarbeit handelt, streben wir (wo sinnvoll anwendbar) an, die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis einzuhalten. An verschiedenen Orten sind diese Regeln zusammengestellt:

https://rechtssammlung.sp.ethz.ch/Dokumente/414.pdf

http://www.ucmp.berkeley.edu/diapsids/buzz/dinoscience.html

https://www.fu-berlin.de/service/zuvdocs/amtsblatt/2020/ab422020.pdf

2.2      Verhältnis zu Grundbesitzern, Pächtern und Infrastrukturbetreibern

Wir sind bei unseren Messungen standortgebunden und haben daher ein Interesse an einer guten Beziehung zu den jeweiligen Grundbesitzern, Pächtern und Infrastrukturbetreiber

Wir respektieren die Besitzverhältnisse und Nutzungsrechte (Landwirtschaft, Beweidung). Messungen führen wir nur in Absprache mit den Grundeigentümern sowie den Pächtern durch.

Zur Aufstellung von Instrumenten nutzen wir Anlagen (z.B. Strommasten) nur, wenn das Einverständnis der Eigentümer und Infrastrukturbetreiber vorliegt.

Ergeben sich aus den Installationen und Messinstrumenten Probleme (z.B. infolge von Defekten der Anlagen, Behinderung von Arbeiten im Umfeld der Station, notwendigen Unterhaltsarbeiten), so streben wir im Rahmen unserer Möglichkeiten rasche Reaktionszeiten an.

Wir kennzeichnen unsere Messgeräte und Installationen mit einer Kontaktadresse. So ermöglichen wir Grundbesitzern, Infrastrukturbetreibern, Pächtern und Passanten die Kontaktaufnahme im Fall von Fragen oder Problemen im Zusammenhang mit den Messstationen.

3.3      Verhältnis zu Behörden / Einhaltung gesetzlicher Vorgaben

Wir halten uns strikte an Einschränkungen und Auflagen, welche sich aus den örtlichen Gesetzen ergeben (Respektieren von Schutzgebieten, Einholen der erforderlichen Bewilligungen). Die Forschenden haben dabei eine Holschuld gegenüber den zuständigen Behörden. Durch die aktive Kontaktnahme kann die Notwendigkeit von Bewilligungen sowie allfällige Einschränkungen in Erfahrung gebracht werden.

3.4      Verhältnis zu anderen Forschungsgruppen

Bei der Erschliessung von neuen Forschungsgebieten und Standorten mittels Messungen und Untersuchungen klären wir ab, ob bereits Forschungsaktivitäten (insbesondere Messkampagnen) in diesem Gebiet stattgefunden haben bzw. aktuell stattfinden.

Es entspricht guten Gepflogenheiten, den Kontakt zu anderen Initiativen, welche im gleichen Gebiet tätig sind, zu suchen und sich über die Ziele und geplanten Untersuchungen auszutauschen. Halten sich alle beteiligten Forschungsinitiativen an den vorliegenden Kodex, so ist eine entsprechende Abklärung bei der Grundeigentümerschaft in der Vorabklärungsphase der logische Schritt.

Gerade weil die Erforschung von Kaltluftseen einen kompetitiven Charakter hat („Wo werden die tiefsten Temperaturen gemessen?“), verpflichten wir uns dem Fairplay-Gedanken.

Grundsätzlich streben wir Kollaboration vor Konkurrenz an: Für private Initiativen sind die Mittel beschränkt. Ein gemeinsam abgestimmtes Vorgehen bringt daher in vielerlei Hinsicht Vorteile: Betrieb zusätzlicher Messstandorte, mehr Ressourcen für den Einsatz von hochwertigerem Material, mehr personelle Ressourcen für den Betrieb der Stationen.

Der Austausch der Resultate von Messkampagnen und Analysen in geeigneter Form und Aggregierung entspricht guten Gepflogenheiten – es sei denn, dass Auflagen (z.B. durch allenfalls vorhandene Auftraggeber) dies verhindern.

Wir respektieren die bisher geleisteten Untersuchungen in einem Gebiet. Aus diesem Grund suchen wir eine Einigung mit den bisher im Gebiet tätigen Gruppen über den Grad an Öffentlichkeit bzw. Medienpräsenz, welcher für alle Seiten akzeptabel ist. Es gibt sowohl für die Verschwiegenheit (Schutz von Standorten, Vermeidung von Vandalismus und Diebstahl) wie auch für die Publizität (Bekanntmachen des mikroklimatischen Phänomens „Kaltluftsee“, Grundlage für das Akquirieren von Einnahmen (Spenden, Crowd-Funding), …) gute Gründe. Neben den Interessen der beteiligten Gruppen sind auch die Interessen der Grundeigentümerschaft sowie die Sensibilität des Untersuchungsgebietes zu berücksichtigen.

3.5      Verhältnis zur Öffentlichkeit und zu den Medien

Wir sind uns bewusst, dass Temperaturrekorde ein dankbares Thema für die Medien sind und sind uns der Risiken von Zuspitzungen und Überzeichnungen bewusst. Wir kommunizieren defensiv, lassen Fakten sprechen und streichen die Unsicherheiten und die räumlich beschränkte Gültigkeit unserer Messungen heraus.

3.6      Eigene Sicherheit

Indem wir die Risiken für uns selber minimieren, vermeiden wir den Einsatz von Rettungskräften.

Häufig bewegen wir uns in (hoch-)alpinem Gelände. Wir ergreifen die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen wie sie jeder Alpenclub herausgibt. Nachfolgend sind Beispiele aufgeführt:

Karstgebiete weisen besonders tückische Risiken auf. Folgende Publikationen gehen unter anderem darauf ein:

Der Aufenthalt im Gelände bei extremer Kälte stellt Körper und Geist vor besondere Herausforderungen (vgl. https://www.canada.ca/en/health-canada/services/healthy-living/your-health/environment/extreme-cold.html und https://www.ccohs.ca/oshanswers/phys_agents/cold_general.html). Die Schutzbekleidung ist adäquat zu wählen (z.B. http://www.mountainbike-expedition-team.de/Siberia/arctic_clothing.pdf), wobei zu berücksichtigen ist, dass die Temperatur ausserhalb von Senken 15 – 30 °C wärmer sein kann als auf dem Grund der Senken.

4        Teilnehmende Organisationen und Personen

Die nachfolgend aufgeführten Organisationen und Personen verpflichten sich, diesen Verhaltenskodex nach bestem Wissen und Gewissen einzuhalten:

Organisation Vertreten durch Kontakt Datum
kaltluftseen.ch Stephan Vogt info_at_kaltluftseen.ch 07.10.2018
 (private person)
  Karel Holvoet k.f.holvoet_at_gmail.com 28.11.2018
 The Exiled Weatherman
  Orban Sebestyen Zsombor minusz0_at_yahoo.com 05.12.2018
Agenzia Regionale per la Prevenzione e Protezione Ambientale del Veneto ARPAV
  Bruno Renon bruno.renon_at_arpa.veneto.it 18.12.2018

5        Quellen

Dieser Verhaltenskodex wurde durch verschiedene, ähnlich gelagerte Kodexe inspiriert. Mehrere dieser Kodexe beschäftigen sich ebenfalls mit standortgebundenen Wissenschaften: